… wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln
Beobachtungen zur Yin-Yang-Bildserie von Ralph Kull
Die romantische Poesie könne, meint Friedrich Schlegel 1798 in seinen „Fragmenten“, zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden … auf den Flügeln der poetischen Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Dieses Credo romantischer Ästhetik kann ein Licht werfen auf die Grundhaltung, aus der heraus Ralph Kull, so will mir scheinen, seine Bild-Geschichten der im Kunstverein Hannover ausgestellten Bilder und Zeichnungen der Jahre 1983 und 1984 erfunden und organisiert hat. Damit ist auch eine emotive Haltung gemeint, in der eine Assoziation die andere hervorruft, auf der Grundlage der Vorstellung von Natur als schöpferische Kraft, die „innen“ und „außen“ gleichermaßen umfaßt. Der Wachtraum einer potenzierten Wirklichkeit entsteht, indem vor allem Wünsche, Begierden, Tabus, Ängste, aber auch Hoffnungen Gestalt gewinnen und in kosmologisch anthropologischen Kategorien eingebettet werden: Himmel und Erde, Licht und Schatten, männlich und weiblich sind die Pole solchen Weltverständnisses.
Es ist dieses Bilddenken, das sich nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Musik in Bremen (1979 begonnen, 1982 abgeschlossen) immer stärker durchsetzt. Nach dem Abitur erst über einige Umwege – Gelegenheitsjobs, Bundeswehr, Grafikertätigkeit – zum Kunststudium gelangt, sind Kulls Studienjahre (Malklasse Rolf Thiele) stärker durch Auseinandersetzungen mit analytischen Möglichkeiten der Malerei geprägt. Solche bildsyntaktischen Erfahrungen kommen nun der schweifenden Bildphantasie in der Organisierung von Bildideen zu Hilfe. Das kontinuierliche Weiterarbeiten nach dem Studium wurde wesentlich ermöglicht durch ein – Arbeitsstipendlum des Kunstvereins Hannover (Villa Minimo). Auch das 1984 erhaltene Reisestipendlum des Alexander Domer Kreises sowie der beabsichtigte Parisaufenthalt dürften insofern wichtig werden, da sie sicherlich die Auseinandersetzung mit anderen Kunst- und Kulturtraditionen weiter befördern werden.
Die im Kunstverein ausgestellten Werke können als Einheit gesehen werden und bilden die erste Nach-Akademie-Phase der künstlerischen Arbeit Kulls. In diesen Bildern dominiert Stille, wird Reflexion ausgelotet, tastend erfahren. In ihnen ist eine Haltung präsent, die sich eher zu einer Frage, denn einem: So ist es! entschließt. Stille Bilder, Meditationstafeln, voll „Melancholie“, „Übergängen“, „Erinnerung“ und „Dämmerung“, so mehrere Bildtitel, in denen sich subjektive Befindlichkeit bricht. Zugleich der Anspruch, mehr als nur momentane Impressionen zu formulieren, vielmehr einem differenzierten Stehen sich öffnend, in dem auf unterschiedlichen Darstellungsebenen rätselhafte Chiffren und Symbole verbunden sind. Grundmotive, wie Haus, Tür/Tor, Weg, Rad, Porträtbüste (bei der offen bleibt, ob der Betrachter oder der Künstler selbst gemeint ist), werden in wechselnden Konstellationen zu archetypischen Gehalten verbunden, in denen unterschwellig ein Gefühl der Bedrohung bestimmend ist. Das Motiv der Flamme, im weiten Sinne des Verbrennens wie des sich Entzündens, auch im Sinne des sich an einer Idee entzündens, kommt dabei signifikative Bedeutung zu. So in dem Bild „homo hominis lupus“, der Mensch ist des Menschen Feind, von1983. In diesem zweigetellten, dennoch im ganzen dunkelgrundigen Bild steht links ein Haus in Flammen, während rechts im abstrakten Raum einer dunklen Nacht ein Tier wartet. Dieser Tiersilhouette (Wolf oder Schäferhund) eingeschrieben ist eine auf dem Kopf stehende Menschenbüste. Mensch und Tier sind als Einheit gesehen, ob als Bedrohung oder als evolutionsgeschichtliche Rückerinnerung gemeint, bleibt offen. Rätselhaft, dunkel bleibt das eigene Innere, ebenso wie das Äußere des dunklen Raums keinen Schutz gewährt – das Haus steht in Flammen.
Alle Bilder dieser Periode bauen auf dem gleichen Grundschema einer Gegenüberstellung auf, die zumeist zugespitzt ist zum Gegensatz einer weißen und schwarzen Leinwand. Können hiermit auch die unterschiedlichsten Assoziationen verbunden werden, Tag und Nacht, Licht und Schatten, Wärme und Kälte, stets handelt es sich doch um ein Gegensatzpaar. Das heißt, ein Teil ist auf dem anderen bezogen, der eine wäre ohne den anderen sinnlos, ohne Tag keine Nacht. Dieser Doppelbildcharakter ist nichts Aufgesetztes oder nur Bildträger, sondern Bildgrund in der Bedeutung, daß damit die strukturelle Gliederung aller anderen Bildtelle und Ebenen – die des Materials, der Farbe, der Zeichnung, des Motivs, der emotiven Äußerung – vorgegeben bzw. angedeutet ist. Die Bilder führen ihre eigene Lesbarkeit, ihren eigenen Schlüssel mit sich.
Ralph Kull teilt hier eine Weltsicht, die in chinesisch-östlicher Kultur in dem Modell des Yin-Yang bildlich symbolisiert ist. Eine weiße und eine schwarze Fischblase sind so ineinander verschlungen, daß sie einen Kreis bilden und daß bei einem Durchschneiden des Kreises in jeder Hälfte weiße und schwarze Anteile enthalten sind – damit die gegenüber dem primär gegensätzlichdialektischen Denken des Westens die in den Gegensätzen bestehende Einheit der Gegensätze im östlichen Denken als wesentliche Differenz beider Denkhaltungen veranschaulichend. (Wobeijedoch ein Blick auf die deutsche Frühromantik, siehe Eingangszitat, eine ähnliche Geisteshaltung erkennen ließe.)
Die gegensätzlichen Bildtelle der Yin-Yang-Senie könnte man sich in der Vorstellung aufeinandergeklappt denken – etwa wie in einem mittelalterlichen Reisealtar – und hätte dann beide Seiten, allerdings dem Blick entzogen, vereinigt. Dies wird zum Beispiel in dem „Paar“-Bild durch die Schräge der roten Farbbahn auf dem linken Bildteil und der dazu symmetrischen braunen Farbbahn auf dem rechten dokumentiert. Die Bildtellung in der Mitte fungiert als Bildachse, der die beiden Teile rechts und links zugeordnet sind.
Auch in den anderen Bildern dieser Serie werden auf beiden Bildseiten (oben-unten, links-rechts) Bildzeichen gesetzt, die um die jeweilige Bildachse rotieren. Das Zeichenmaterial, thematisch-formal aufeinander bezogen und ausgewogen, ist in ein pendelndes Spiel gebracht. Kull vermeidet weitgehend, Zeichen an die Bildränder zu setzen, das würde ihre Pendelmöglichkeit um die“geistige“ Bildachse behindern. In“Melancholle“ hat er für diesen Bezug und die Pendelbewegung als zusätzliches Bildzeichen eine Achse mit zwei Rädern gefunden. Ursprünglich einen Wagen darstellend, ist von diesem eben nur noch die Achse mit zwei Speicherrädern übriggeblieben. So verselbständigt, ist das Bildzeichen auch offen für andere Bedeutungen wie Pendel, Waage, Doppelgesicht: Das Obere wird an dem Unteren gemessen, das Schwarz am Weiß, das Porträt mit der kauemden Figur verglichen. Zusätzlich erscheint das eine im anderen. Für sich betrachtet ist die schwarze Tafel von differenzierenden Grautönen erfüllt, das dunkle Porträt, weiß umrandet, leuchtet daraus wie ein Negativfoto auf-, im weißen Feld dagegen schwingt ein dunkler blauer Fleck wie ein sogartiges Loch, von ähnlicher Eiform wie die kauemde Gestalt, von deren Umrissen sie teilweise überschnitten wird. Überall ein Ineinanderblenden. Der Abstraktionsgrad, zu dem Motivliches und Formcharaktere reduziert sind, läßt dem Betrachter Freiraum, den er, auf gegebener Grundstruktur, mit eigenen Assoziationen und Gedankenketten füllen kann, so erst das Bild in der Betrachtung vollendend.
Das Bild „Übergang“ dreht, wie „Melancholie“, das Schwarz-Weiß-Schema aus einer Links-Rechts-Trennung in eines von oben und unten, damit verstärkt Wirkungen des Schwebens und Fallens evozierend. Von einem sogartigen blauen Wirbel werden auf der rechten Bildseite Liniengewächse, Tisch, Kreuzigungsgestalt, Hut und rote Strähnen eines Blutregens eingesaugt – unter dem Blick einer Büste mit verdunkeltem Gesicht, Beobachter solcher Traumzeit, in dem die Regeln äußerer, bewußter Wirklichkeit aufgehoben scheinen. Kann man wagen, den blauen Strudel als Projektionsfläche des Unbewußten anzusprechen? jedenfalls spielt diese Chiffre eine große Rolle in Kulls Zeichenwelt – in „Paar“ umgreift sie die verwundete, gelbfarbige Gestalt ringartig, in Melancholie“ wirkt sie wie der Raumschatten der in sich versunkenen Figur.
Das eigene ich, auf der Suche nach sich selbst, zwischen Ängsten und Hoffnung, Gefängnis und Befreiung, auch in Beziehung zum anderen in der Spanne zwischen Verletzung und Bereicherung, eingebettet in Orientierungsfeldern anthropologischer und überhistorisch-naturkosmischer Art. Erst in der Rückbesinnung auf auslösende Momente der Emotionswelten bricht sich gegenwärtige Erfahrung und Alltag.
Das Prinzip der offenen, mehrdeutig-assoziativen Bildsprache, wie es in Ralph Kulls Bildern zutage tritt, repräsentleren heute vor allem italienische Künstler wie Mimmo Palladino oder Francesco Clemente, Künstler, die unter anderem in der Kestner-Gesellschaft in Hannover vorgestellt wurden. Palladinos kosmologische Chiffrensprache, in der die Einheit sinnlicher Kräfte des Menschen und der äußeren Natur betont wird, Clementes Betonung der Körpersinnlichkeit als Einheit und Komplexität der Sinne von Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen, steht Ralph Kulls Welt- und Bildverhältnis nahe. Diesem Ideal der Einheit der Sinne, der Komplexität der Sinnlichkeit als Erlebnisraum korrespondiert die „offene Form“ der Bedeutungsstruktur. Diese in ihrer bildlogischen Struktur bereits vor über 20 Jahren analysiert zu haben, ist das Verdienst des italienischen Linguisten Umberto Eco in seinem Buch „Das offene Kunstwerk“ (italienisch 1962, deutsch 1973), in dem er davon sphicht, daß das Kunstwerk dem Betrachter in derartig strukturierten Werken der bildenden Kunst ein“freies Sicheinrügen und aktives Rekapitulieren dieses … Systems“ des Kunstwerks gestattet (Suhrkamp-Ausgabe, 1977, S. 13). Das Bild wirft eine Frage auf, auf die der Betrachter eine Antwort selbst finden muß. Was bei Eco jedoch vor allem an Werken des Tachismus und der abstrakten Moderne analysiert wurde, kann nun Übergefährt werden in die sinnliche Präsens einer metaphernreichen Bildsprache.
Kulls Bilder sind auch insofern offen, da sie keine Wertungen aussprechen, sich nicht für die eine oder andere Seite entscheiden. Sie bleiben scheinbar neutral um des Engagements des Betrachters willen. Ralph Kulls Bilder sind Konzepte – mitunter betont er das Konzeptartige durch den Tafelcharakter des Farbauftrags und durch den Gebrauch von Kreide. Man kann diese Konzepte wegwischen, doch wer sie wegwischt, muß neuesetzen.
Prof. Dr. Peter Rautmann,
ehem. Rektor der Hochschule für Künste Bremen
Katalogtext Stipendiatenkatalog der Villa Minimo, 1985